Zeit zu Handeln
„Handel im Wandel“, „Dem deutschen Einzelhandel droht ein Massensterben“, „Internet gegen Innenstadt: das große Ladensterben“, „Ist ein Kaufhaus noch zeitgemäß?“ oder: „Online Shopping: Die digitale Gefahr für den Einzelhandel“ – David gegen Goliath, sollte man meinen, Ausgang offen.
Headlines wie diese ziehen sich seit geraumer Zeit immer häufiger durch die täglichen News. Digitalisierung (und die damit einhergehenden Veränderungen innerhalb der Wertschöpfungskette), e-Commerce, das sich wandelnde Konsumentenverhalten, infrastrukturelle Veränderungen der Innenstädte sowie die immer schneller voranschreitende Store Erosion machen es dem stationären Handel immer schwerer am Markt zu bestehen.
Produkte, Sortimente und Einkaufsstätten sind zu einem Großteil austauschbar geworden, Kundenbindung und -treue extrem volatil, Informations- und Reizüberflutung führen zu sinkenden Aufmerksamkeitsspannen. Immer neue oder modifizierte Vertriebs- und Vermarktungskonzepte drängen auf den Markt, der veränderte Werte- und Strukturwandel innerhalb unserer Gesellschaft erschwert eine fokussierte und adäquate Kundenansprache und führt somit wiederum zu erhöhten Kosten und Streuverlusten innerhalb der Werbung und des Marketings. Und hinzu kommen die ganz allgemeinen Herausforderungen der heutigen Zeit, wie z.B. Globalisierung, stetig steigende Komplexität, Diversifikation, Big Data, Nachhaltigkeit, Mobilität, Convenience und Individualisierung.
Doch wie sieht es eigentlich online aus? Logistische Herausforderungen, extrem hohe Retouren und Cancellation-Raten, das Handling diverser Möglichkeiten und Risiken der Zahlungsabwicklung, die Übersetzung des unter anderem haptischen Einkaufserlebnisses in die digitale Welt sowie die Qualität von Produktbildern, SEOs, CRM, BI-Lösungen, schlechte Funnel drop off Raten, Conversion- oder NPS-Werte sind nur ein paar Basics im Alltag eines Onlinehändlers.
Und dann ist da noch die Sache mit dem Trust - bei ca. 1 Mio Fake Shops im Internet wurden bereits rund 4,4 Mio Internetnutzer betrogen. Im Netz herrscht also auch nicht eitel Sonnenschein.
Fakt ist, im viel besprochenen Handel 4.0 steckt soviel Umsetzungsherausforderung, Wandel und Bewegung wie schon lange nicht mehr. Und das in einem solch rasanten Tempo, dass einem ganz schwindelig werden kann. Und zwar sowohl offline als auch online.
Also der Handel gegen den Wandel der Zeit? Digitalisierung als Schlüssel zum Erfolg? Oder vielleicht doch eher Rückbesinnung auf die eigentlichen Stärken, Werte und Kompetenzen?
Jeder Trend erzeugt ja auch immer einen Gegentrend, jede Bewegung eine Gegenbewegung. In diesem Kontext also quasi das Yin & Yang der Wirtschaft. Während viele Kunden vor ein paar Jahren vermeintlich stationär nach Beratung gefragt haben und dann online gekauft haben scheint es heute umgekehrt zu laufen. Wer schnell unterwegs ist braucht auch eine Phase des Ankommens.
Meines Erachtens nach darf der stationäre Handel also bei all dieser zukunftsgerichteten und vor allem meist sehr technologiegetriebenen Neuausrichtung keinesfalls den Blick auf seine Wurzeln, seine Ursprünge und seine Kernkompetenz verlieren – nämlich die echte Beziehung zu seinen Kunden. Denn hier liegt der eigentliche Schlüssel zum Erfolg. Ein Vorteil, den nie ein Onlinehändler haben wird. Der direkte Kundenkontakt, face-to-face. Die Möglichkeit, die wahren Bedürfnisse des Kunden direkt vor Ort zu ergründen. Live und in Farbe, emotional. Die echte Beziehung, denn andernfalls würde man nicht Weg und Zeit auf sich nehmen.
Also, Schuster, bleib bei Deinen Leisten. Damit will ich keinesfalls zum Ausdruck bringen, dass der stationäre Handel sich nicht um einen professionellen – oder zumindest charmanten und authentischen - Internetauftritt kümmern soll. Wer heute online noch nicht präsent ist wird es zukünftig schwer oder zumindest schwerer haben. Ich will damit nur sagen, dass jedes Vertriebskonzept und jeder einzelne Händler seine ganz eigene Schlüsselkompetenz besitzt, seinen individuellen USP, etwas, wofür er heute schon steht oder zukünftig stehen kann. Und das muss nicht nur über alle Kanäle konsistent zum Ausdruck kommen, sondern darf auch im originären Geschäftsmodell nicht vernachlässigt werden. Wird die Pflicht nicht erfüllt ist die Kür irrelevant. Anders ausgedrückt sollte man sich fragen: wenn ich von einem stationären Händler ein negatives Bild habe, das auf der Fläche geprägt wurde und somit als symptomatisch für seine Kernkompetenz gewertet werden kann, würde ich dann bei diesem Händler online kaufen?
Auf der anderen Seite gibt es noch immer viele Berührungsängste beim Kauf im Internet. Onlineshopping hat nämlich viel mit Vertrauen zu tun. Hinsichtlich der Zahlungsmittel, der Kundendaten, der Produktqualität und auch der Echtheit und Herkunft. Wenn jetzt aber ein Unternehmen, mit dem ich bereits eine vertrauensvolle und verlässliche Beziehung habe, nun auch online erreichbar ist, kann das schon wieder ganz anders aussehen.
Das EHI Retail Institute hat im letzten Jahr die größten Frustauslöser beim stationären Einkauf ermittelt.
Das sind die Top 3:
- Verkäufer nicht auffindbar
- Lange Schlangen an den Kassen
- Unfreundliche, nicht motivierte Mitarbeiter
Wartezeiten, sowie schlechte oder Fehlberatung sind ebenfalls unter den Top 10 zu finden.
Also offensichtlich kommt auch in der heutigen Zeit dem Verkaufsmitarbeiter weiterhin eine Schlüsselrolle zu. Unverständlich, weswegen gerade dieser sensible Part jener ist, der oftmals als erstes dem Kostendruck weichen muss.
Unterhalte ich mich mit Freunden über tolle Serviceleistungen, sprechen wir in der Regel nicht über Champagnercatering oder einen Helikopterflug zur Kasse. Dann sprechen wir über so einfache aber elementare Dinge wie persönlichen Service an Umkleidekabinen, ein Beratungsgespräch, in dem neben Lösungen auch Empfehlungen gegeben werden, das Abnehmen von Ware oder die Begleitung zur Kasse. Oder wirklich einfach nur ein nettes Gespräch. Nicht mit Mitarbeitern, die halb zu Tode gecoacht wurden. Sondern mit Menschen, die Spaß an ihrem Job und am Umgang mit anderen Menschen haben. Die sich als Problemlöser oder Tippgeber verstehen. Also wirklich keine rocket science.
Oder zumindest so kluge Flächenlösungen, dass man es auch bei wenig Personal als Kunde einfach hat, an das gewünschte Produkt zu kommen und die wenigen verbliebenen Menschen auf der Fläche ihre Zeit nicht den Nebentätigkeiten widmen müssen sondern sich um den Kunden kümmern können. Ohne Hast und Überforderung.
Der Kunde im Laden braucht nicht viel, aber das, was man erwarten kann im stationären Handel sollte auch geleistet werden. Denn ohne Beratung kann ich auch genauso gut im Internet shoppen. Ganz gemütlich von der Couch aus. Und meist mit mehr Auswahl.
Ja, Handel ist weiterhin Wandel. Und ja, manchmal muss man sich auch verändern oder vielleicht sogar neu erfinden. Aber man darf deswegen trotzdem nicht aus dem Blick verlieren, wofür man geschätzt und gebraucht wird. Wenn es dem Handel gelingt, den Kunden auch auf der Fläche in die digitale Welt einzubinden und neben dem persönlichen Kontakt durch diese Verknüpfung einen weiteren relevanten Mehrwert zu generieren, der das Einkaufserlebnis steigert, wird es möglich sein, wieder beständige und feste Kundenbindungen aufzubauen.
Ein sinnvoller und ansprechender Auftritt in den sozialen Netzwerken kann hierbei unterstützen und relevanten Content liefern. Mit den Menschen im Markt dort in Kontakt zu treten, wo sie sich befinden, räumlich und emotional, sie dialogisch und spielerisch über spannende Geschichten und Themen für das eigene Produkt oder die eigene Marke zu begeistern, eine eigene Community aufzubauen; das ist, was Social Media leisten kann. Das ist die Chance, die Digitalisierung für die eigenen Zwecke sinnvoll zu nutzen.
Wenn ich also sage, Zeit, zu handeln, dann meine ich damit, jetzt die Chancen zu erkennen, sein eigenes Profil klar herauszuarbeiten und zu kommunizieren. Ich meine damit, wieder in eine echte Beziehung zu seinen Kunden zu investieren. Verbindlich, interessiert und werteorientiert. Das darf auch gerne digital sein, aber solange es noch reale Geschäfte gibt, wird es ohne live nicht gehen.
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