Ist Mobilität weiblich?
Rein grammatikalisch ja. Ganz eindeutig sogar. Es heißt DIE Mobilität. Im Gegensatz zu DER Stillstand.
Einspruch. Polemik. Stattgegeben.
Ok, ich formuliere die Frage anders: Warum braucht es zur Zukunft der Mobilität eine reine Frauenkonferenz? Wer und was steckt hinter "Women in Mobility"? Um welche Themen ging es beim ersten Summit in Frankfurt? Und warum durfte ich als Mann überhaupt dabei sein? Auf all diese Fragen versuche ich in diesem kleinen Artikel Antworten zu geben.
Doch lasst mich zunächst darüber reden, wie es war, als einer von insgesamt acht Männern (Quote knapp 5%) allein unter Frauen. Ich höre schon die Kommentare „… jetzt erlebst du mal, wie es Frauen auf jedem Event geht“. Nein. Genau das habe ich eben nicht erlebt. Ich habe mich auf einem Event noch nie so wohl, so willkommen und so wertgeschätzt gefühlt. Und ich glaube nicht, dass das Frauen sagen, die in ähnlicher Quote auf Konferenzen waren. Im After-Podcast von Katja Diehl (Link am Ende des Artikels) habe ich dieses Phänomen verglichen mit der Welt bei „Herr der Ringe“. Es ist etwas völlig anderes, ob du als einziger Hobbit auf einem Event von hunderten Orks bist oder ob du der einzige Ork unter hunderten Hobbits bist.
Erlaubt mir noch einen weiteren Gedanken, bevor ich zum fachlichen Teil des Summits komme. Warum braucht es gleich eine reine Frauenkonferenz. Also eine Konferenz, die von der Initiative über Konzept, Planung und Realisierung bis zu den Speakerinnen zu 100% von Frauen erdacht und gemacht wurde. Ich habe darauf eine ebenso klare wie komplexe Antwort: Weil 2019 ist. Weil wir in einer Zeit disruptivster Veränderungen leben. Weil sich unserer Welt mitten in einer zunehmend radikalen und grundlegenden Phase der Transformtaion befindet. Ich würde sogar sagen, wir erleben gerade eine regelrechte Revolution. Die Barrikaden sind längst errichtet. Manche brennen schon.
Und in solchen Zeiten braucht es eben das Ausprobieren radikalerer Ansätze. Wir haben es schließlich lange genug mit gutem Zureden und Quotengedöns probiert. Aber das bringt uns alles keinen Meter weiter. Weil die alten weißen Männer als trotzige Bewahrer einer bald endenden Epoche nach wie vor im Weg rum stehen. Genau deshalb braucht es einen radikalen Neuanfang. Auf der ganz anderen Seite des Spielfeldes.
Was genau ist der "Women in Mobility Summit"?
Da übernehme ich eins zu eins den Text der Website. Besser kann ich das nicht schreiben: Am 14. und 15. November 2019 diskutierten in Frankfurt 185 Teilnehmer*innen ihre Ideen rund um die Mobilität der Zukunft. Das Ziel: Frauen aus den verschiedenen Mobilitätssparten zu vernetzen und Expertinnen sichtbar zu machen, die sonst eher im Verborgenen gestalten.
Seit der Gründung 2015 sind heute rund 2.000 Frauen aus verschiedenen Mobilitätssparten und Hierarchieebenen im Netzwerk Women in Mobility organisiert. Der #WiMsummit war das erste große Treffen von WiM-Mitgliedern aus der D-A-CH-Region und vereinte die interaktiven Elemente eines Barcamps mit denen einer klassischen Konferenz.
Und damit nun endlich zum Thema Mobilität und noch einmal zu meiner Frage in der Überschrift. Die für mich vielleicht wichtigste Erkenntnis des Summit ist, dass Frauen Mobilitätsangebote nicht nur statistisch gesehen häufiger, sondern vor allem anders nutzen. Natürlich war mir das schon immer irgendwie klar. Aber es wurde mir - vor allem durch die Keynote von Lieke Ypma - noch wesentlich klarer.
Basis und Quelle für viele der von ihr beschriebenen Fakten ist das Buch „Invisible Women“ von Caroline Criado Perez. Die Autorin zeigt anhand entsprechender Erhebungen auf, dass Frauen zum Beispiel allein 75% der unbezahlten Pflegearbeit leisten und insgesamt weniger Geld verdienen. Darüber hinaus beschreibt sie, dass Frauen im Rahmen ihrer täglichen Mobilität mehr so genannte Wegeketten nutzen, dabei häufiger in Begleitung unterwegs sind und fast immer mit Gepäck. Sie stehen meist unter Zeitdruck, stellen mit 66% die Mehrheit bei der ÖPNV-Nutzung, legen viele Wege zu Fuß zurück und sind insgesamt weniger experimentierfreudig als Männer.
Alleine auf Basis dieser Erkenntnisse macht ein rein weiblicher Summit zum Thema Mobilität auch fachlich mehr als Sinn. Wo doch alle ständig von dringend notwendigen Perspektivwechseln reden. Here we go. Schauen wir doch einfach mal, was es braucht, aus der Perspektive der mobilen Mehrheit. Doch da ist noch mehr. In ihrem Vortag „Female Mobility“ konfrontiert uns Lieke Ypma auch mit einer ganzen Reihe an Aussagen von Frauen, die die Komplexität und Dringlichkeit von weiblichen Lösungen in der Zukunft der Mobilität noch klarer machen.
„Auf dem Weg nach Hause höre ich keine Musik, sonst höre ich die Schritte hinter mir nicht.“
Gerade jetzt in der dunklen Jahreszeit ist es sogar mir als Mann in vielen Bahnhöfen, Parkhäusern und Unterführungen sowie auf Straßen und Plätzen zu unsicher, wenn ich alleine unterwegs bin. Wie oft schon habe ich deshalb die Schritte beschleunigt oder gar für kurze Strecken ein Taxi genommen. Wie muss das erst für Frauen sein? Schon so oft habe ich das gedacht. Es jetzt in einem Raum mit so vielen Frauen noch einmal so deutlich zu hören, verursachte bei mir als Mann heftige Fremdscham. Vor allem die Aussage mit der Musik hat mich extrem bewegt und mir noch einmal bestätigt, wie dringend es im öffentlichen Raum hierfür ganz neue Lösungen braucht.
„Was kann ich hier noch erledigen?“
Während Männer doch in den meisten Fällen eins nach dem anderen machen dürfen - also idealtypisch Aufstehen, Kaffee, Arbeit, Freizeit - ist die weibliche Agenda geprägt von Gleichzeitigkeiten. Aufstehen (und gleichzeitig Kinder wecken), Kaffee (und gleichzeitig Kinder für Kita und Schule fertig machen), Arbeit (und/oder Pflege von Angehörigen, kranke Kinder früher wieder abholen, Arbeit mit nach Hause nehmen, im Wartezimmer beim Kinderarzt sitzen und Kinder zuhause mit Wärmflasche und Zäpfchen versorgen und eine Geschichte zur Beruhigung vorlesen … für alle Essen kochen und dann zu später Stunde noch die mit nach Hause genommene Arbeit erledigen …). Die Anforderungen an Mobilität sind also auch hier ganz andere. Während Männer meist einfach nur von A nach B wollen, versuchen Frauen immer direkt zu prüfen, ob sie am jeweiligen Zielort noch weitere Aufgaben mit erledigen können. Was mich aber am meisten beeindruckt ist, dass Frauen trotz dieser täglichen Multitasking-Marathons deutlich seltener darüber klagen als Männer, wenn diese ausnahmsweise einmal die Kinder holen müssen.
Ich weiß, dass das längst nicht mehr auf alle Frauen und Männer zutrifft. Da hat sich zum Glück schon viel getan. Es ist hier eine bewusste Überzeichnung der Umstände, um deutlich zu machen, warum es dringend mehr Frauen in der Planung und im Management moderner Mobilität braucht. Weil solche Tagesabläufe eben völlig andere Angebote und Lösungen brauchen als einfach morgens irgendwo hin und abends wieder zurück zu fahren. Von den dunklen Straßen, Ecken und Gleisen mal ganz abgesehen.
„Wo kann ich hier telefonieren?“
Unabhängige Studien kommen immer wieder zu dem Ergebnis, dass der Wunsch nach Zuverlässigkeit bei Nutzer*innen im ÖPNV an erster Stelle steht. Aber auch hier müssen wir unterscheiden, was genau Frauen mit „Zuverlässigkeit“ meinen. Definitiv mehr als Pünktlichkeit, sagt Lieke Ypma. Darüber hinaus sind „Wo kann ich hier telefonieren? Darf ich meinen Hund da mit rein nehmen? Wo können die Kinder in der Zeit spielen und wo ist die nächste Toilette?“ nur einige der Fragen, die sich männliche Fahrgäste eher selten stellen.
Es gab im Silberturm in Frankfurt an diesem Tag jede Menge weiteren fachlichen Input. So habe ich von Maria Vassilakou, der ehemaligen Vizebürgermeisterin von Wien, erfahren, wie die Mariahilfer Straße gegen zunächst viele Widerstände komplett autofrei wurde und jetzt - aufgrund des großen Erfolgs - viele Bezirke nachziehen wollen. Von der Verhaltensforscherin Dr. Elisabeth Oberzaucher habe ich gelernt, was die Evolution mit der Mobilitätsrevoution zu tun hat. Carmen Köhler hat mich nicht nur menschlich begeistert mit ihrer bescheiden authentischen Art und ihrem herrlich ansteckenden Lachen, sie hat vor allem ihre grandiose Geschichte erzählt. Als Friseurin in die Berufswelt gestartet, hat sie dann doch noch Mathematik studiert und ist heute Astronautin. Eine "CO2 neutrale", wie sie selbst sagt. Das bedeutet, sie fliegt gar nicht ins All sondern erforscht in aufwändigen und realitätsnahen Simulationen - unter anderem in 50 kg schweren Raumanzügen - die Voraussetzungen für eine Reise zum Mars.
Auch Leonie Müller teilte ihre verrückte Geschichte mit uns. Leonie hat ihre Wohnung gegen eine BahnCard 100 getauscht und so eine völlig neue Art mobilen Lebens und Arbeitens erforscht. Zu meinem großen Glück hat sie mir am Ende sogar ihr Buch geschenkt und signiert. Und Dorothea Bateva von Fermata, einem in Gründung befindlichen StartUp von DB Systel, konfrontierte mich zum ersten Mal mit dem Begriff „Curbside Management“, also der Frage, wem der Straßenrand gehört und wie man ihn - mit Hilfe digitaler Lösungen - flexibel nutzen kann. Eben nicht den ganzen Tag als Parkplatz oder Bushaltestelle oder Ladezone. Sondern sowohl als auch, zu unterschiedlichen Zeiten und je nach Bedarf.
Jetzt weiß ich, was ich vermisst habe!
Im zweiten Block des Tages gab es dann Barcamp-Sessions zu unterschiedlichen Themen. Die ebenso spannenden wie lehrreichen Diskussionen und Themen hier auszuführen, würde zu weit führen. Und es braucht ja auch noch einen Grund für euch, beim nächsten Mal selbst dabei zu sein.
Im Rückblick und Fazit des Tages dominiert bei mir das Glücksgefühl, live erlebt zu haben, wie ich in Zukunft gerne mit Menschen arbeiten möchte. Mehr noch. Ich habe eine völlig neue Art von Konferenz erlebt. Ohne Testosteron, laute Rechthaberei und ohne selbstverliebte Alphatiere, denen es nicht um die Sache oder die Zukunft sondern nur um sich selbst und die Verteidigung ihres Standpunktes geht. Ich habe stattdessen sozial und fachlich hoch kompetente Frauen kennen gelernt, die respektvoll, wertschätzend, fair und fokussiert an der Zukunft der Mobilität denken, arbeiten und wirken. Und ich fühlte mich vom ersten Moment an liebevoll integriert. Jetzt weiß ich endlich, was ich auf Konferenzen, Events und Summits all die Jahre vermisst habe.
Das Allerwichtigste aber, das ich vom „Women in Mobility Summit“ mitgenommen habe, war die Keynote von Lieke. Weil sie (mir) noch einmal ganz klar gemacht hat, worum es bei der Zukunft der Mobilität geht, wo wir im wahrsten Wortsinn stehen, wo sich bereits etwas bewegt und was es künftig braucht. Danke dir ganz besonders, liebe Lieke!
Wir brauchen eine bessere Balance
Insgesamt möchte ich schließen mit einer grundsätzlichen Erkenntnis, die für mich nicht neu ist, die der Women in Mobility Summit allerdings erneut befeuert hat. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir die immer komplexer werdenden Probleme unserer Welt - nicht nur in der Mobilität - nur gemeinsam bewältigen können. Egal ob in Wirtschaft, Gesellschaft oder Politik. Das geht alles nur ohne Konkurrenzdenken, Besserwisserei, Angeberei und Machtgeilheit. Und da Frauen - das hat mir dieser Summit wieder deutlich vor Augen geführt - diese Eigenschaften deutlich seltener besitzen als Männer, sollten wir tunlichst darauf achten, die Geschlechter ganz bald in eine bessere Balance zu bringen.
Es braucht viel mehr gegenseitigen Respekt, ehrliche Anerkennung und wertschätzende Begegnung auf Augenhöhe. Denn das sind die aus meiner Sicht und Erfahrung wichtigsten Voraussetzungen für jede Form erfolgreicher Zusammenarbeit an und in der Zukunft. Das ist übrigens weder links noch feministisch. Das ist gesunder Menschenverstand und für unser aller Überleben schlicht alternativlos.
Der Podcast zum Summit
Und wenn Ihr jetzt immer noch nicht genug habt, dann hört euch einfach die neue Folge von „She drives Mobility“ an. Das ist der Podcast der Kommunikations- und Unternehmensberaterin Katja Diehl aus Hamburg, die sich auf die Schwerpunkte neue Mobilität, neues Arbeiten und Diversität spezialisiert hat. Im ersten Teil der unten eingeblendeten Sendung interviewt sie Dr. Elisabeth Oberzaucher und entlockt ihr spannende Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung und den Zusammenhängen mit der aktuellen Mobilitätsrevolution. Im zweiten Teil hat sie dann noch Thijs Lucas und mich als „Quotenmänner“ zu unseren Erkenntnissen befragt. Hier beantworte ich übrigens auch die Frage, warum ich als Mann überhaupt dabei sein durfte.
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